Auf den Weg machen von dort, wo man gerade steht …

Earth for all Deutschland: Ein Survival Guide für die Bundesrepublik.
Der Club of Rome veröffentlichte 2022 das Buch „Earth for all“, einen „Survival Guide für unseren Planeten“. Ende 2024 legten Expert:innen des Club of Rome und des Wuppertal Instituts einen neuen Weckruf nach, in dem sie Zukunftsszenarien für Deutschland entwerfen. „Earth for all Deutschland“ skizziert, wie es um das Land steht, wenn entweder das Modell „Too little too late“, also zu wenig zu spät, eintritt oder der „Giant leap“, der Riesensprung, erfolgt. Letzterer geht mit einer radikalen Umgestaltung unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystems einher.
„Earth for all“ baut auf dem Erbe des 1972 vom Club of Rome herausgegebenen Klassikers „Grenzen des Wachstums“ auf. In dieser erneuten Analyse werden praktische Lösungen auf den deutschen Kontext zugeschnitten. Das Ziel: eine wohlhabende und nachhaltige Gesellschaft innerhalb der planetaren Grenzen zu schaffen. Das Problem: Obwohl Deutschland über ein ausgeprägtes Problembewusstsein verfügt, gibt es mit 54 Prozent nur einen geringen Zustimmungsgrad, dass die Bekämpfung des Klimawandels den Menschen viele Vorteile bringen kann. Zum Vergleich: In Indien, wo Massen an Hitze sterben, beträgt die Zustimmung 73 Prozent, in Kenia sogar 90 Prozent. Der Appell der Autor:innen: Besser wir verändern die Gesellschaft gemeinsam so, wie wir in Zukunft leben möchten, als dass die Verhältnisse uns Veränderungen aufzwingen. Um jedoch gemeinsam notwendige Wenden zu realisieren, müsse es eine Aufhebung der sozialen Ungleichheit geben. Leider ist das Buch bis zur Erklärung der notwendigen Wenden so wortreich und ausschweifend, dass es mitunter schwer fällt, bis zu den Lösungen durchzuhalten. Bei der Aufforderung, von der Diskussion ins Handeln zu kommen, schleicht sich stellenweise das Gefühl ein, das Buch könnte einen unnötig davon abhalten …
Armutswende
Durch Armut entstehen Konflikte, Kriege und Migration. Für verschuldete Staaten seien daher Schuldenschnitte notwendig, zumal Kredite und Darlehen zum Teil mit einem Gewinn für Deutschland verbunden seien. Doch auch hierzulande lebe jeder Fünfte zahlenmäßig unter der Armutsgrenze, was zu Ernährungs-, Energie- und Mobilitätsarmut führe. Daraus entstehe die Gefahr sozialer Unruhen. Derzeit sei die eine zentrale Frage in der Politik: Wie schnell kann man wie viele Menschen wohin abschieben? Als Importeur von billigen Rohstoffen und Gütern seien wir aber mitverantwortlich für die prekäre wirtschaftliche Lage von Flüchtenden. Hierzulande und im globalen Süden gelte daher: Armut bekämpfen! Förderprogramme, die nur Finanzstarken nutzen wie etwa das Dienstwagenprivileg, seien abzulehnen. Vor jeder Förderung brauche es einen Sozialcheck. Eine Stärkung der Kommunen, bessere Verteilung von Steuereinnahmen, Schuldenerlass für überschuldete Kommunen sowie eine Dezentralisierung versorgungsökonomischer Dienstleistungen seien passende Instrumente.
Die Ungleichheitswende:
Ungleichheit mache gesellschaftlichen Zusammenhalt unmöglich. Chancen seien von Geburt an ungleich verteilt, Einkommen und Vermögen bestimmen Einfluss und Macht. Zu den nicht Gleichberechtigten gehören: Frauen, Migrant:innen, Kranke und Menschen mit Behinderungen. Das Ziel: Chancengleichheit herstellen. Wenn planetare Grenzen nicht überschritten werden sollen, sei es rechnerisch nicht möglich, dass Ärmere mehr haben und Reicheren nichts genommen wird. Die Stellschrauben: Spitzensteuersatz, Erbschaftssteuer, Vermögenssteuer, Kapitalertragssteuer, Klimageld plus und gleichheitsfördernde Wirtschaftsformen.
Die Empowerment-Wende:
Empowerment bedeutet: Stärkung der Selbstwirksamkeit und damit die Gleichstellung der Geschlechter. Studien belegen dadurch positive Auswirkungen auf wirtschaftlichen Fortschritt, subjektives Wohlbefinden und Zufriedenheit. Je mehr Frauen an Regierungen beteiligt seien, desto besser für Bildung und Gesundheit. Nur 28,9 % der Führungspositionen, schlechtere Bezahlung, mehr unbezahlte Arbeit, weniger Vermögen, Unterbrechung der Erwerbsbiographie, geringere Renten: So erkläre sich fehlende Selbstwirksamkeit von Frauen.
Die Ernährungswende:
Wir leben im Überfluss: Alles ist immer verfügbar. Auf 8 Milliarden Menschen kommen zehn Mal so viele Nutztiere. Hinzu komme eine Eintönigkeit im Anbau: 30.000 essbare Pflanzenarten wären möglich, nur 150 würden im größeren Umfang angebaut. Die Probleme: Insektensterben, Verunreinigung des Grundwassers, ein ungesunder westlicher Ernährungsstil, Landwirtschaft als Treiber des Klimawandels und Unternehmen, die nach Profit statt Gesundheit, sozialer Gerechtigkeit, Umweltschutz und Tierwohl streben. Ein Beispiel für zwei Szenarien:
TOO LITTLE TOO LATE
Konventionelle Landwirtschaft, Nitrat- und Phosphorbelastung intensivieren sich. Bodenfruchtbarkeit und Biodiversität nehmen ab. Wasser wird ein knappes Gut, so dass es zu Rationierung kommt. Kleine Betriebe geben auf, statt dessen sind global tätige Agrarunternehmen am Markt. Die Lebensmittelpreise und die Macht des Handels steigen. Es kommt zu Abhängigkeit von Importen, Hunger, Armut, politischen Unruhen, Migration, Versorgungsunsicherheit. Nur Reiche können sich eine ausgewogene Ernährung leisten. Überall gibt es gleiche Speisen in gleichen Restaurantketten. Die Gesundheitskosten explodieren. Die alleinerziehende Maja (28) ist mit ihren beiden Kindern abends im Supermarkt. Nebenan an der Tafel stehen Menschen Schlange. Die Kinder wollen synthetische Chicken Nuggets und Pommes, die schon wieder teurer geworden, aber dennoch billiger sind als frisches Obst und Gemüse. Es gibt Proteste gegen die hohen Lebensmittel-Preise. Abends arbeitet Maja im Home Office. Sie hat Bauchschmerzen.
GIANT LEAP
Landwirtschaft und Ernährungskultur sind nachhaltig, Flächen werden resilient und effizient genutzt. Dabei bedienen sich die Verfasser:innen leider des Begriffs „regenerative Landwirtschaft“, ohne die Problematik dieser nicht genau definierten und ohne verbindliche Richtlinien ausgestatteten Form der Landwirtschaft zu erörtern. Wer sich mit Landwirtschaft auskennt, erfährt hier wenig Neues und zum Teil auch keine kritische Bewertung. Bekannte Optionen werden zusammengefasst: öffentliches Geld für öffentliche Leistungen im Rahmen der GAP, Reduktion des Fleischkonsums, Tierwohlabgabe, Vertical Farming, Laborfleisch, Lebensmittelverschwendung, Außer-Haus-Verpflegung als Schlüssel, Mehrwertsteueranpassung …
Maja sitzt mit ihren Kindern im Schatten eines Gemeinschaftsgartens, den es in jedem Stadtviertel gibt und wo sie Gemüse ernten. Nach dem Kochen und Essen in der Quartiersküche spielen die Kinder im Garten. Auch in der Schule bekommen sie gesundes Essen.
Die Energiewende:
Das Ziel: Energie soll risikofrei, generationengerecht, versorgungssicher, bezahlbar und CO2₂-frei sein. Das schließt Atomkraft aus. Wird das Ziel nicht erreicht, kommt es zu globalem Konkurrenzdruck, teuren Energiekosten, Importabhängigkeit und Versorgungsunsicherheit, wobei sich Reiche gegen Klimafolgen absichern können. Die Lösungen liegen in Effizienz, Suffizienz und Konsistenz. Beispiel Mobilität: Vermeidung von Verkehr, Verlagerung von Verkehr, Verbesserung der Verkehrsträger, Verbesserung des Zugangs zu Mobilität. Vorbild: die 15-Minuten-Stadt, in der alle wichtigen Einrichtungen zu Fuß oder per Rad für jeden in 15 Minuten erreichbar sind. Energetische Sanierungen, Herstellung von Verursachergerechtigkeit, die Änderung von Konsum- und Produktionsmustern, ein Tempolimit und der Ausbau des ÖNPV sind weitere Bausteine.
Halbierung des Verbrauchs
Für alle Wenden sei die Grundlage, weniger Ressourcen zu verbrauchen. Schlagendes Argument: In Industrienationen ist das Wohlergehen seit 1960 nicht gestiegen! Wirtschaftswachstum und Konsum haben die Lebensqualität also nicht mehr entscheidend verbessert. Konkret müsse sich der Verbrauch im Sinne einer Kreislaufwirtschaft halbieren! Das bedeute aber auch, dass Superreiche mit besonders hohen Verbräuchen vorrangig reduzieren müssen.
Für uns alle ist die Zukunft abstrakt. Dieses Buch setzt aus vielen Puzzleteilen ein anschauliches Bild davon zusammen, was unter verschiedenen Bedingungen passieren könnte. Die Szenarien wirken glaubwürdig, da wir entsprechende Tendenzen des „too little too late“ schon jetzt wahrnehmen. Die Stärke der Veröffentlichung liegt darin, die Zusammenhänge aufzuzeigen und am Ende darin, Abstand zu nehmen von Pauschalisierungen: Jeder solle in seinen Rollen die eigenen Spielräume nutzen als Wähler:in, Unternehmer:in, Politiker:in, Arbeitnehmer:in, Investor:in, Freund:in, Nachbar:in, Familie, Vereinsmitglied, Gläubige:r, Aktivist:in, Reiche:r, Arme:r, Wissenschaftler:in, Konsument:in. Alle sollen sich auf den Weg machen von dort aus, wo sie gerade stehen!
